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Songtext vs. Gedicht

Aktualisiert: 9. Mai 2024

Ein nicht ganz ernst gemeinter Fight ...


Ich wurde schon öfter darauf angesprochen, ob ich nicht meine vielen Gedichte vertonen lassen wolle. Dann hätte ich doch auf einen Schlag ganz viele neue Songs.

Grundsätzlich ist das möglich, verleiht dem Lied dann jedoch eine extrem poetische Note, was in dieser Intensität oft gar nicht gewünscht ist. Bisher hat es tatsächlich nur eins meiner Gedichte in einen Songtext geschafft und das auch nur sehr stark geändert.

Warum ist das so? Warum sind die Unterschiede so groß, obwohl doch beides aus der Lyrik stammt?


Ring frei für einen nicht ganz ernst gemeinten, aber interessanten Fight.


Es treten an ...

In der roten Ecke: Das etwas hager wirkende, wohlgeformte Gedicht

In der blauen Ecke: Der hochgewachsene, auf den ersten Blick etwas unförmige Songtext


Der Einzug

Ein Raunen geht durch die Zuschauermenge, als das Gedicht aus dem Dunkel der Katakomben ins gleißende Scheinwerferlicht tritt. Schweigend und erhaben schreitet es in Richtung Ring. Seine Erscheinung ist beeindruckend, durch und durch ebenmäßig.

Kaum hat es den Ring betreten, erschallt plötzlich eine imposante Musik. Der Blick der Menge richtet sich auf den Songtext, der nun auch die Bühne betritt. Seine Figur ist interessant, wenn auch nicht so gleichmäßig geformt wie bei seinem Kontrahenten. Er wirkt auf den ersten Blick etwas weniger eindrucksvoll, die Musik sorgt jedoch ohne Zweifel für einen spektakulären Auftritt.


Runde 1

Die beiden Gegner tänzeln vorsichtig in die Mitte des Rings, testen ihr Gegenüber. Schnell erkennt man unterschiedliche Taktiken. Das Gedicht versucht es mit einer permanent gleichen Geschwindigkeit. Die geschmeidigen Bewegungen unterliegen einem festen Rhythmus. Ob es mit dieser Methode eine Chance gegen den Songtext hat? Auch der legt einen gewissen gleichförmigen Bewegungsfluss an den Tag. Aber er ist variantenreicher und die Geschwindigkeit, mit der er seinen Konkurrenten umkreist, ist mal schneller und mal langsamer.


Runde 5

Bisher plätschert der Kampf etwas dahin. Zeit, sich das Outfit der beiden genauer anzuschauen. Auf den roten Shorts des Gedichts finden sich unzählige Werbebotschaften. Die allermeisten reimen sich konsequent oder bestechen durch ausgefeilte Wortspiele, erkennbar durch eine gekonnte Inszenierung aus Groß- und Kleinschreibung oder gezielter Kommasetzung.

Hier kann der Songtext nicht mithalten. Die Botschaften auf den blauen Shorts sind zwar auch teilweise gereimt, unterliegen aufgeschrieben aber nicht so sehr einer festen Struktur. Sie würden auch anders notiert Sinn ergeben.* Man wünscht sich ein klein wenig die Einzugsmelodie zurück, um die Botschaften eindeutiger verstehen zu können.


Runde 8

Der Kampf hat jetzt Fahrt aufgenommen. Beide Kontrahenten schenken sich nichts, es ist noch alles offen.

Bis jetzt ist auffällig, dass das Gedicht seine Taktik, sein Schema und seine Geschwindigkeit** eisern in jeder Runde wiederholt. Dadurch verleiht es dem Kampf eine gewisse Ruhe und Kontinuität. Der Songtext hingegen variiert bisher zwischen drei verschiedenen Taktiken***, die teilweise sehr unterschiedlich sind. Sein Auftreten wirkt daher etwas unruhiger, macht ihn allerdings auch unvorhersehbarer und damit abwechslungsreicher.

Ein Vorteil für den Songtext?


Runde 12

Die beiden Boxer haben sich einen fairen Kampf geliefert. Man merkt, dass beide aus dem gleichen Trainingslager "Lyrik" stammen. Beide legten ihren Schwerpunkt auf eine gewisse Sinnlichkeit, auf Empfindung und Imagination, was dem Ganzen einen hohen Grad an Ästhetik verlieh. Zweifelsohne zeugen beide Gegner von Kunst und Kultur!

Jetzt ertönt scheppernd der Schlussgong. Die Ringrichter zählen eilig die Punkte zusammen und verkünden das Ergebnis: Unentschieden!

Das Gedicht überzeugte u.a. durch seine Geschmeidigkeit und den sichtbaren Hang zu Spielereien. Seine klare Struktur und Gleichmäßigkeit ließen dem Gegner aber auch so manche Chance zum Konter.

Der Songtext bestach über viele Runden durch seine Vielseitigkeit und Abwechslung. Ohne musikalische Begleitung konnte er seine volle Kraft jedoch nicht zu hundert Prozent zur Geltung bringen.


Gratulation zu einem spannenden und fairen Fight!


Und könnte nun das Gedicht vor diesem Hintergrund in die Rolle des Songtextes schlüpfen?

Schwer, denn das Gedicht ist oft zu gleichförmig für eine Vertonung. Die Melodie wäre zu langweilig und würde dem Gedicht schlimmstenfalls eine schnöde Note verleihen. Umgekehrt wird ein Musikstück durch die Nutzung eines Gedichts sehr poetisch, was weder alltagstauglich ist, noch den Mainstream-Zuhörer anspricht.

Unterliegt ein Gedicht einer Melodie, sind Wortspiele schwer zu realisieren, weil allein die akustische Wahrnehmung möglich ist. Der gedichtete Text, mit seiner ausgeklügelten Struktur und seinem Rhythmus, steht so sehr für sich selbst, dass eine Melodie bestenfalls eine Hintergrundmusik bilden könnte, meist dann aber doch stören würde. Der eigentlich durch den Leser vorgegebene Fluss wird verhindert.


Beide Arten können einander nicht ersetzen und nur schwer ergänzen. Sie erheben aber auch nicht den Anspruch darauf. Sie sind und bleiben eigenständige Typen der Lyrik, der Kunst und der Kultur.




* Einen Songtext kann man gemäß der Sinnhaftigkeit seines Inhalts aufschreiben oder gemäß seiner Melodie (Pausen/gegebener Rhythmus).

** Beim Gedicht bestimmt der Leser die Geschwindigkeit.

*** Strophe, Chorus, Bridge / Außerdem bestimmt die Melodie die Geschwindigkeit.

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