Es braucht mehr Courage in der deutschen Musikindustrie
Seit wenigen Jahren testen deutschsprachige Songs bei den Callouts der Radiosender immer schlechter, die Polarisation bei den Zuhörern wird immer größer. Deutsche Künstler, die im Englischen unterwegs sind, stoßen auf erkennbar größere Akzeptanz, als zum Beispiel Mark Forster, Johannes Oerding oder Sarah Connor.
Wenn man genauer hinhört, bekommt man schnell den Eindruck, vor drei, vier Jahren wären die Songs noch deutlich innovativer und frischer gewesen. Auf manchen Platten klingt tatsächlich ein Lied wie das andere, sowohl thematisch, als auch von der Komposition. Warum sollte auch ein Risiko eingegangen werden - schließlich punktete die Produktion davor auch schon bei der Stammhörerschaft. Schuster, bleib bei deinem Leisten... oder etwa nicht? Denn natürlich geht es bei der ganzen Sache auch um den Erhalt der Glaubwürdigkeit. Santiano würde man ein Loblied auf die Alpen genauso wenig abkaufen, wie Andreas Gabalier einen Shanty.
Aber warum sind die Zuhörer mit der deutschsprachigen Musik so viel kritischer als bei den englischen Titeln, an denen sie sich scheinbar, trotz aller Ähnlichkeiten, nicht satthören können? Und was muss getan werden, damit deutschsprachige Songs wieder mehr gespielt werden?
Das Problem an deutschen Titeln, welches keines sein sollte, ist, dass der Zuhörer sofort und unmittelbar jede Feinheit des Textes versteht. Inhalt und Message sind meistens ohne Umweg erfassbar, können mit anderen Liedern sofort verglichen werden, so dass eine mangelnde Abwechslung direkt auffällt. Schwächen im Text, Logikfehler, Inhaltsarmut oder falsche Silbenbetonungen springen vielmehr ins Auge bzw. Ohr, als es bei englischen Titeln der Fall wäre. Natürlich sind die meisten Zuhörer des Englischen mächtig, es macht aber sehr viel mehr Mühe, den Text 1. vollständig zu verstehen, 2. zu übersetzen und 3. dann noch zu interpretieren.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Lied "Bobby Brown" von Frank Zappa. Eine nette, entspannte Melodie und niemandem fällt der verachtende Text auf, bei dem man sich wundern muss, dass er nicht auf dem Index gelandet ist. Ein Lied, das im Radio rauf und runter lief - und es auf Deutsch niemals dorthin geschafft hätte. Oder nehmen wir "Hallelujah" von Leonard Cohen. Niemand, der sich mit dem Text genauer beschäftigt, käme auf die Idee, diesen Song für seine Hochzeit zu wählen. Aber es ist bequem, sich von einer schönen Melodie einfangen zu lassen und sich um den Rest keine Gedanken machen zu müssen. Wir lassen bei englischen Liedern zu, dass die Komposition uns etwas vorgaukelt - Romantik, wo gar keine ist, gechillte Lebensfreude, wo es eigentlich um Vergewaltigung geht ... Den "Vorteil" hat deutschsprachige Musik nicht. Sie muss andere Wege finden.
Das fällt in diesen Zeiten nur leider schwer, in denen die Musikbranche wenig Mut zur Veränderung zeigt. SängerInnen kann man kaum mehr an ihrer Stimme unterscheiden, manchmal gibt wenigstens noch der Stil einen kleinen Hinweis auf den Interpreten. In den Texten wiederholen sich die gleichen Themen und sollte doch mal etwas Neuartiges dabei sein, sollte sich doch ein Künstler mit seinem Team mal aus der Deckung wagen, wird man den Song bei den Radiosendern vergeblich suchen. Viel zu oft wird sich mit dem Argument herausgeredet, dass man solchen Liedern immerhin in Webradios eine Chance bieten würde.
Der breiten Masse wird damit aber keine Gelegenheit gegeben, sich neue Ideen anzuhören und sich daran zu gewöhnen. Neue Kunst braucht die Möglichkeit und die Zeit wirken zu können. Und es braucht Menschen, die, sowohl bei der Produktion als auch im Radio, den Mut haben, eine kurze Zeit der Spannung aushalten zu können, dem Neuen wenigstens eine Chance zu geben. Es braucht Zeit, bis sich Menschen an Veränderungen gewöhnt haben, das war schon in der Vergangenheit so. Man stelle sich zum Beispiel vor, J.S. Bach hätte seine Überlegungen zur Vollendung des Quintenzirkels beim ersten Gegenwind (und den gab es reichlich) verworfen ...
Der momentane Deutsch-Pop, der von den Radioanstalten überhaupt noch gespielt wird, wirkt leider tatsächlich ideenlos, ausgebrannt. Das nächstliegende Genre, der Schlager, bietet dem pop-gewöhnten Zuhörer keine wirkliche Alternative. Der Unterschied ist zu groß und lässt daher auch kein vernünftiges Crossover zu. Doch die Alternativen sind bereits da - es gibt Künstler, die es geschafft haben, diese kleine Nische zwischen Deutsch-Pop und Schlager zu finden. Mit neuen Kompositionen, neuen, interessanten Stimmen, anders gewählten Harmonien, differenzierten Themen und anspruchsvollen Texten. Gäbe es doch nur mehr Mut auf Seiten der Plattenfirmen, Produzenten und schließlich auch der Radiosender, diesen Künstlern mehr Raum zu geben! Eine Clara Louise, Wilhelmine, ein Jonathan Zelter oder Philipp Poisel werden leider (noch) zu wenig beachtet.
Es bleibt die Hoffnung, dass die vielen Appelle und die tollen Projekte (z.B. #Musikvonhier) von einigen der Musikschaffenden, die auch gerade über Social Media verstärkt Verbreitung finden, irgendwann gehört werden.
Danke vor allem für den Hinweis auf das Hallelujah, ich sag das immer wieder, aber keiner will es hören, weil das Lied so schön ist. Ich sing es inzwischen nur noch in meiner deutschen Nachdichtung, damit dieses falsche Gefühl gar nicht erst aufkommt. Das Missverständnis wird aber noch bestärkt dadurch, dass viele Sänger durch ihre kitschige Interpretation das gebrochene Hallelujah zu einem heilen machen wollen. Das gilt auch für verschiedene deutsche Fassungen oder "chritsliche" Neutextungen, damit man es im Gottesdienst singen kann, ohne über die Bosheit der Welt nachzudenken.
Hey, hab Dank für den gedanklich und argumentativ gut gegründeten Textbeitrag im Blog. Vielleicht ist die nachfolgende Frage eine Erweiterung zu deinem Apell "Mut zur Nische": Woran misst sich Erfolg? An der Reichweite eines Songs? Woran misst man die? An wirtschaftlichem Erfolg? Welchen Aufwand und welchen Ertrag stellt man dabei gegenüber? Als jemand, der in der Singer-/Songwritertradition mit eigenen Songs in deutscher Sprache unterwegs ist, habe ich für mich die Entscheidung getroffen, dass der einzige Maßstab meine eigene Wahrnehmung ist. Bin ich zufrieden? Entsprechen Text, harmonische und melodische Umsetzung und das Arrangement meinen eigenen Ansprüchen? Ist der Song authentisch, passt er zu mir, ist er wirklich meiner, kann er berühren? Wenn man diese Fragen bejahen kann, dann lohnt der Aufwan…